
Jeder muss jede Meinung äußern dürfen – aber man muss nicht alles sofort beurteilen. (Foto: Treiber)
Seit einer gefühlten halben Stunde lauschte ich am Telefon der Mitarbeiterin eines Meinungsforschungsinstituts, die mir Frage um Frage stellte: Was ich von welchem Telefonanbieter halte, welche Partei ich am Sonntag wählen würde, und welches der folgenden Ländern ich mir als Urlaubsziel vorstellen könnte – geordnet von 1 = gar nicht bis 5 = sehr gut. Dann war es mir zu viel.
Muss man eigentlich zu allem eine Meinung haben? Genügt es nicht, zunächst einfach nur die Fakten zu kennen. Und auch nur da, wo sie für mich Bedeutung haben? War der G20 Gipfel ein Erfolg oder nicht? Ich denke, das kann man ehrlicherweise so oder so sehen. Und ich bin zwar davon überzeugt, dass es den Menschen in Afrika besser gehen sollte, aber wie das am besten zu erreichen ist, wird sich vermutlich nicht per Meinung entscheiden lassen, sondern das können Fachleute viel besser beurteilen, wenn mehrere Dinge immer wieder versucht und wieder verbessert wurden. Jeder muss jede Meinung äußern dürfen – aber man muss nicht alles sofort beurteilen.
Unsicherheiten gehören zum Leben. Das meiste lässt sich – in der Politik wie auch privat – nicht planen, sondern nur mit etwas Mut riskieren. Wenn es schief geht, dann muss man eben etwas anderes versuchen. War es deshalb falsch? Nein, ich konnte es ja nicht vorher wissen. So ähnlich, und nun zum Predigttext des nächsten Sonntags, ist es den Jüngern Jesu gegangen. Von Johannes dem Täufer, der eine klare Meinung über andere Menschen hatte (Stichwort: „Ihr Otterngezücht“) haben sie sich entfernt, und folgten nun Jesus, der für alles und jeden ein großes Herz zu haben schien.
Die Frage: „Wie beurteilen Sie die römische Besatzungspolitik auf einer Skala von 1 bis 5?“ hätte er gewiss ignoriert*. Man muss es eben aushalten, solche Fragen auch mal nicht zu beantworten. Oder anders gesagt: Man muss Haltung zeigen, aber nicht zu allem eine Meinung haben.
* vgl. Markus 12, 13-17
Predigttext am Sonntag, 16. Juli 2017, ist Johannes-Evangelium 1, 35-42.
Pfarrer Treiber predigt sonntags um 10 Uhr in der Matthäuskirche Heilbronn-Sontheim.