Ein Stein, der schreit. Ich habe ihn Ende November 1989 eigenhändig aus der Berliner Mauer an der Koch-Straße nahe am Checkpoint Charlie geholt. 40 Jahre lang hatte man den Menschen in der DDR den Mund verboten. Menschen, die entkommen wollten, wurden erschossen, und wer die Wahrheit über das Leben im Sozialismus aussprach, musste mit Gefängnis rechnen und damit, dass seine Kinder zur Adoption freigegeben werden. 28 Jahre lang schrieen die Steine der Berliner Mauer die Wahrheit über diese Verbrechen in die Welt hinaus, und am Ende jubelten auch die Menschen als 1989 die Grenze geöffnet wurde.
Dass sich die Wahrheit auf Dauer nicht aufhalten lässt, ist eine Grunderfahrung des Christentums, das ist spätestens am Ostermorgen deutlich geworden. Doch vorher gab es Versuche, Jesus zum Schweigen zu bringen. Er ist ganz offenkundig bei den Menschen sehr beliebt, und sein Botschaft lässt sie jubeln: Liebe soll regieren, Vertrauen soll herrschen, und keine Macht der Welt soll das verhindern.
Wichtig ist dabei, dass Jesus das eben nicht nur sagt, sondern tut. Die Leute haben das an ihm gesehen: Lieben und Vertrauen, Aufhelfen und Heilen. Nie ist Gott den Menschen so nahe gekommen, und deshalb ist für mich ganz deutlich: Was soll Wahrheit anderes sein als das, was dieser Jesus aus Nazareth verbreitet, als er sagt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ – „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!“ – „Nehmt einander an!“
Deshalb heben ihn Menschen auf der Straße, wenn man so sagen will, in den Himmel! Sie fühlen sich befreit und trauen sich, ihm zuzujubeln, weil sie die Hoffnung haben, dass alles sich zum Besseren wendet.
Dass in Wahrheit alles besser wird, hören manche nicht gerne, denn sie haben einfach zu schlechte Erfahrungen gemacht. Pessimisten haben ja immer irgendwie recht, meinen sie. Ich finde, es ist fantastisch, dass es schon ein Jahr nach Beginn der Pandemie eine Reihe von Impfstoffen gegen Covid-19 gibt. Aber dann sagen die Pessimisten: Es gibt da doch manchmal Nebenwirkungen.
Und noch nie in der Geschichte konnten Menschen so friedlich miteinander leben und sind so sozial miteinander umgegangen und gab es so wenig Gewalt. Nur glauben wollen das die Pessimisten nicht, dass man die Welt zu einem besseren Platz machen kann – mit Glaube, Liebe und Hoffnung.
Jesus hatte sich damit die Mächtigen zu Gegnern gemacht, die dem Fortschritt nicht trauten – und dem naiven Gottvertrauen auch nicht. Und schon gar nicht trauten sie Jesus, der die einfachen Leute in seinen Bann zog, und den die einfachen Leute verehrten und dem sie nachfolgten.
Aber so einfach lässt sich die Wahrheit nicht unterdrücken. Sie kommt ans Licht, immer!
Der Schüler sollte das wissen, der eine schlechte Klassenarbeit zurückbekommen hat. Die Eltern fragen: „Hat die Lehrerin sie schon zurückgegeben?“ – „Nein!“, sagt er, und ich frage ich, was das soll, denn irgendwann kommt es doch heraus.
Erwachsene denken oft noch viel mehr, dass sie mit Verschweigen durchkommen: Die Frau, deren Geschäft vor der Pleite steht und die sich Geld leihen möchte, oder der Mann, der seine Frau betrügt.
Mit Verschweigen durchzukommen, glauben auch all diejenigen, die sich selbst etwas nicht eingestehen können, und das trifft uns manchmal vielleicht am stärksten, dass wir uns nicht eingestehen können, dass es etwas nicht in Ordnung ist, in unserem Leben. Es fällt uns schwer, uns einzugestehen, dass wir etwas ändern müssen und anders machen sollten, vielleicht, dass wir jetzt wirklich freundlicher, offener, ehrlicher werden sollten, weil sonst alles so mies bleibt, wie es ist. Es fällt schwer, sich aufzuraffen, dass man endlich tut, was nötig ist. Manchen fällt es schwer, sich einzugestehen, dass sie endlich Hilfe suchen und sich anderen anvertrauen müssen. Aber wer sich selbst etwas vormacht und die Wahrheit nicht eingesteht, der schadet sich selbst, denn irgendwann wird die Wahrheit ans Licht kommen.
Aber auch das Gute kommt ans Licht.
Es kommt ans Licht, dass das Gute richtig ist, dass es richtig ist, die Hand zur Versöhnung zu reichen und nicht nachtragend zu sein. Es kommt ans Licht, dass es besser ist, Fehler gleich zuzugeben, und sie nicht zu vertuschen. Es kommt ans Licht, dass es richtig ist, nicht nur an sich zu denken, sondern auch daran, wie es den anderen geht, mit denen ich zusammenlebe.
Es soll nicht so weit kommen, dass es die Steine schreien müssen. Jesus hat sich den Mund nicht verbieten lassen und seinen Jüngern auch nicht. Das wurde ihm übel genommen. Er wurde verhaftet und schließlich gekreuzigt.
Doch seine Botschaft lebte weiter, mächtiger als zuvor, lebt weiter bis heute: Liebe ist stärker als der Tod. Also: Liebt einander! Du bist ein Kind Gottes! Hab also keine Angst, und sieh auch in allen anderen Menschen ein Kind Gottes! Reich deinem Widersacher die Hand! Tu anderen Gutes, und lass dir deine Freiheit von niemandem nehmen. Denn das letzte Wort über dein Leben hat nicht die Lüge, hat nicht das Unrecht, hat nicht der Tod, sondern am Ende siegt die Liebe und am Ende siegt das Leben, das in Wahrheit ewig ist. Amen!
Predigttext am Sonntag, 2. Mai 2021, ist Lukas-Evangelium 19, 37-40.