Sonntag, 9. August 2020 – Wissen, wofür man lebt

Um die Geschichte eines jungen Mann es geht es*. Er ist vielleicht 25 Jahre alt und stammt aus einfachen Verhältnissen. In diesem Alter ist er vielleicht auf der Suche nach sich selbst. Was soll ich werden? fragt er sich. Was will ich aus meinem Leben machen? Und plötzlich trifft ihn wie ein Schlag eine Gewissheit: Prophet will er werden. Nein: soll er werden. Gott hat es ihm gesagt. Er soll den Leuten die Wahrheit sagen. Über alles. 

Heute würden bei solch einer Geschichte alle unsere Alarmglocken schellen. Richtige Propheten gibt es nicht mehr. Die Aufgaben haben andere übernommen.

Aber da ist es ähnlich. Bei Journalisten zum Beispiel, den guten Journalisten. Die etwas so darstellen, wie es ist. Nicht um Leuten zu gefallen, sondern um der Wahrheit zu dienen. Dabei auch Dinge benennen, die gerade nicht gerne gehört sind. Dinge sagen, die gerade nicht so in der Zeitung stehen. Journalisten, die tiefer graben, die nicht in rechten oder linken Haltungen mitschwimmen, sondern die immer kritisch nachfragen. Und die der Vernunft mehr trauen als einer Meinung.

So wollen heute zwar viele sein. Querdenker nennt man sie, aber die richtigen Querdenker erkennt man oft daran, dass sie einsam sind und vom Medienrummel wenig halten. Wahre Propheten sind einsam und wenig beliebt.

Der junge Mann in der Bibel hieß Jeremia. Und seine Reaktion erstaunt nicht. Als Gott ihn zum Propheten beruft, ist seine Reaktion sofort: „Mit mir nicht! Ich bin zu jung.“ Sein Auftrag klingt in der Bibel auch ziemlich zerstörerisch. Die Rede ist von ausreißen, einreißen und zerstören – und erst danach auch wieder etwas aufbauen. Jeremia ahnt wohl, was kommt. Er wird einsam und ein Außenseiter. Bedroht und bekämpft. Er fasziniert die Leute und wirkt zugleich abstoßend auf sie. Und das Schlimmste: Er wird selbst zum Eiferer, ein schwieriger Charakter: sensibel und misstrauisch. Keiner, mit dem man befreundet sein will. 

Seine Botschaft ist so einfach wie überhörbar: Leute, glaubt an Gott! Und da sieht er wohl wenig Platz für Nachsichtigkeit und Humor. Schade! Mein Fall wäre das nicht.

Aber Nein sagen kann er zu diesem Auftrag nicht. Wenn man tief im Inneren spürt, dass man für etwas da ist, für etwas Verantwortung hat, an etwas glaubt, kann man nicht Nein sagen. 

So wenig, wie man Nein sagen kann, wenn man verliebt ist – oder ja sagen kann zu etwas, das man hasst. Aber immerhin hat sich seine Sehnsucht erfüllt. Er weiß nun, wo er hingehört, wofür er lebt. Auch wenn das Leben deshalb nicht leichter wird.

Wissen Sie, wofür Sie leben? Ich denke, ab einem gewissen Alter weiß man das. Hat entdeckt, was einem im Innersten Halt und Kraft und Erfüllung gibt. Den Partner fürs Leben; den Beruf, mit dem man zufrieden ist; die Kinder, die einem anvertraut sind; vielleicht auch die Erfahrung, dass man Krisen gemeistert hat. Vielleicht ist das dann auch der Punkt, ab dem man erwachsen ist.

Jeremia ist nun erwachsen, weiß, wofür er lebt. Sein Leben wird dadurch nicht leichter, aber es hat Sinn und Ziel. Und das spürt Jeremia und das gibt ihm sicheren Halt und Kraft. Deswegen sind es ja immer Krisenzeiten, wenn wir diesen Halt verlieren, nicht mehr wissen, wo wir hingehören, weil uns etwas aus der Bahn geworfen hat, eine schwere Krankheit oder eine Trennung, eine Leere oder eine seelische Verletzung.

Es ist gut, wenn man weiß, wofür man lebt. Auch wenn es nicht immer leicht ist. Jeremia lebt nun für etwas: für seine Aufgabe, die größer ist, als sein Leben. Er soll andere Menschen retten. Vor dem Untergang an Leib und Seele. Er soll den Menschen Gottes Willen verkünden. Jeremia lebt nicht mehr leicht und oberflächlich. Sein Leben gewinnt an Tiefe. Es gewinnt an Bitterkeit – aber eben auch an Menschlichkeit und Ausdruckskraft. 

Das gilt für jeden, auch wenn er nicht sein ganzes Volk retten muss. Das gilt sogar für uns mit unseren kleineren Aufgaben und Berufungen. Ich denke, dass man ziemlich schnell merkt, wenn jemand das tut, wozu er berufen ist. Dann wirkt es irgendwie stimmig, dass jemand Sozialarbeiter wird und nicht Verwaltungsbeamter, dass jemand Ingenieurin ist und nicht Krankenschwester. Wir spüren dass – nicht nur bei uns selbst. Wenn wir sagen: „Er ist der geborene Vater” oder „Sie ist die geborene Chefin”, dann meinen wir genau dies: die Person und ihre Lebensbestimmung stimmen überein.

Um Erfolg geht es dabei nicht. Jeremia hatte keinen Erfolg. Und trotzdem wird es in der erzählt. Es geht hier nämlich um Erfüllung. Das tun, was man soll. Nicht weil andere es sagen, sondern weil man es im Innersten spürt, was man soll. Weil Gott es einem gesagt hat. Und dass das richtig ist. Nicht nur im Beruf. Oder bei den Pflichten, die man hat.

Sagen, was man glaubt und für richtig hält.

Schwache in Schutz nehmen, auch wenn man in der Diskussionsrunde der einzige ist.

Auf Fakten bestehen und Lügen Lügen nennen.

Und nicht nur sagen, sondern auch tun, was man glaubt und für richtig hält.

Und das alles als guten Christen im Geist der Liebe.

Viel verlangt ist das. Sage ich „Nicht mit mir“ wie Jeremia zunächst? Keiner behauptet, dass das immer leicht ist. Jeremia erlebt das Gegenteil. Aber ich glaube, das ist das, was unsere Würde als Menschen ausmacht. Dass unser Leben Tiefe und Reife gewinnt, wenn unser Glaube und unser Tun übereinstimmen, wenn wir andere lieben können, weil wir mit uns selbst im Reinen sind.

 

* Jeremia 1, 4-10

Über mtreiber

Matthias Treiber ist Pfarrer und Journalist. Matthias Treiber is a minister in the Lutheran Church of Wuerttemberg and journalist.
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