Die für mich beeindruckendste Weihnachtsansprache kam in diesem Jahr von der englischen Königin. Unaufgeregt aber eindringlich sprach sie ihren Untertanen, gleich welcher Religion, Mut zu und erzählte, was sie persönlich geprägt hat: Die Erzählung vom barmherzigen Samariter.
Damit hat sie den Kern des Christentums getroffen. Nächstenliebe ist, wie man heute sagt, die DNA unseres Glaubens. Ganz klar, ganz eindeutig und ohne Hintertürchen. Wer an Gott glaubt zeigt das dadurch, dass er seinen Nächsten liebt. Punkt!
Und wer ist mein Nächster? heißt die Frage im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Und die Antwort lautet: Der, der jetzt meine Hilfe braucht und dem ich jetzt helfen kann, und zwar egal, was der andere glaubt oder meint, wie er ist oder was er angestellt hat.
Barmherzigkeit nennt das in einem schönen, alten Wort die deutsche Bibel. „Seid barmherzig, wie auch Gott barmherzig ist,“ heißt das biblische Motto für das neue Jahr. In unserer Kirche hängt das groß an der Wand. Seien wir also barmherzig im Jahr 2021!
Auch im neuen Jahr, muss man betonen, denn die Barmherzigkeit im alten Jahr war schon überwältigend. Menschen, die nicht nur an sich, sondern an andere gedacht haben, haben Barmherzigkeit nicht nur gezeigt, sondern gelebt. All die Pfleger und Ärztinnen, die Polizisten und Rettungskräfte, aber auch all die, die für Nachbarn eingekauft oder für die Freundin auf die Kinder aufgepasst haben. Ich denke an die Barmherzigkeit all derer, die um den Arbeitsplatz ihrer Beschäftigten gekämpft haben, und die da waren, damit wir Wasser und Strom haben, Lebensmittel und natürlich auch das Internet.
„Seid barmherzig!“ soll es auch im neuen Jahr heißen, gerade auch für uns als Kirche. Das ist unser Markenkern. Man erkennt uns an der Nächstenliebe, die hilft, wo es nötig und möglich ist. Das war schon immer so.
1906 eröffnete die Kirchengemeinde Sontheim den Kindergarten Ackermannstift, wo Arbeiterinnen ihre Kleinen in guten Händen wussten. Eine Erfindung des Pfarrerssohns Friedrich Fröbel.
Und jetzt stehen hinter unserem Gemeindehaus kleine Holz-Häuser. Wenn sie endgültig aufgestellt sind, werden hier zwei Menschen eine Wohnung finden, die in Heilbronn sonst keinen Raum haben. Das ist ein Projekt der diakonischen Aufbaugilde, bezahlt von vielen und getragen von der Kirche. Nächstenliebe ist unsere DNA als Christen. Da kann man nichts dran ändern, denn uns ist gesagt: „Seid barmherzig!“, ganz klar.
Aber zwei Fragen bleiben. Zum einen: Wie ist das mit Leuten, die Barmherzigkeit nicht verdient haben? Und dann die Frage: Was haben wir davon?
Zunächst: Barmherzigkeit gilt allen. Auch den Dummen, die einem idiotische Parolen ins Ohr brüllen. So soll auch der Coronaleugner im Krankenhaus ein Beatmungsgerät bekommen, wenn er es braucht. Und Jana aus Kassel hoffentlich ein bisschen Bildung. Da sollten auch die jungen Leute barmherzig sein, die sich in den sozialen Medien nicht zu Unrecht über das Mädchen lustig gemacht haben.
Barmherzigkeit gilt eben auch denen, die im Leben auf sehr krummen Wegen gehen und die es einem schwer machen, ihnen zu helfen; die uns ablehnen, wenn wir doch nur helfen wollen.
Gerade hier muss man barmherzig sein. Wer helfen will, muss auch einstecken können, das wissen wir. Der mürrische alte Mann braucht unsere Hilfe, und das aggressive Kind auch. Die Drogenabhängige, die immer lügt, und der Schläger, den man einsperren muss.
Barmherzig sollen wir sein, auch wenn uns jemand dumm oder krumm daher kommt, barmherzig zu den schrägen Vögeln und dunklen Gestalten.
Und warum?
„Seid barmherzig, wie auch Gott barmherzig ist.“ heißt das Motto. Barmherzig ist Gott zu uns. Denn wir selbst sind doch jeden Tag auch auf Barmherzigkeit angewiesen. Wir sind angewiesen darauf, dass wir gesund bleiben oder werden, dass Unheil uns verschont und unsere Liebsten, dass wir unser Auskommen haben und es das Leben gut mit uns meint. Wir selbst sind jeden Tag auf Barmherzigkeit angewiesen.
Jeden Tag sind wir darauf angewiesen, dass andere uns vergeben und uns ertragen. Da war man mürrisch zum Partner – hoffentlich erträgt er uns heute. Da beantwortet man einen Fehler der Kassiererin mit einer spöttischen Bemerkung – es sei uns vergeben. Da merkt man beim Jahresrückblick, was man alles falsch gemacht hat gegenüber anderen oder überhaupt im Leben. Alles, was nicht geklappt hat und wo man doch verantwortlich dafür ist. Wer vergibt einem das?
Die christliche Antwort heißt hier: Gott. Er ist barmherzig, er vergibt uns, was andere nicht vergeben können, weil wir es uns selbst vergeben müssten, aber nicht können. Mir selbst fällt oft erst hinterher ein, was ich leichtfertig gesagt habe oder was ein Fehler war. Es tut mir leid, wo ich andere enttäuscht habe oder einfach zu schwach war. Und mit jeder Minute, die ich überlege, fällt mir mehr ein.
Lassen wir das alte Jahr hinter uns! Und all das, wo wir Dummes gedacht und Unüberlegtes getan haben! Vertrauen wir es Gott und seiner Barmherzigkeit an! Lassen wir unsere Irrtümer hinter uns und suchen bei Gott neue Orientierung! Seien wir barmherzig zu uns selbst und machen wir uns frei von dem Alten!
Corona hat das ja mehr oder weniger erzwungen. Das Alte galt im zurückliegenden Jahr nicht mehr viel. Die Planungen des letzten Silvester lagen genauso daneben wie die ersten Versuche, der Covid-19-Epidemie Herr zu werden. Alte Überzeugungen wurden hinfällig. Wir mussten lernen, „auf Sicht zu fahren“ und sind dabei dem Straßenrand manchmal verdächtig nahe gekommen, nicht nur die Politiker, auch wir selbst.
Aber eigentlich ist das ja das christliche Leben per se: Auf Sicht zu fahren. Und dabei keine Frucht zu haben. „Was wollt ihr für den morgigen Tag sorgen?“ fragt Jesus. „Überlasst das Gott. Sorgt ihr für den heutigen Tag!“ Und habt heute keine Frucht vor dem, was morgen kommt. Seid heute freundlich und liebevoll, mutig und habt Vertrauen, so gut ihr eben könnt!
Und das können wir, weil Liebe und Hoffnung uns tragen, und vor allem, weil Gott uns trägt, der die Liebe ist – und barmherzig.
Ein gesegnetes neues Jahr wünsche ich Ihnen!